Коллективные действия
NIKOLSKOER LANDPARTIE MIT KD (5. – 7.10.2018)
Im Jahr 2018 habe ich stillschweigend einen Plan begraben müssen, der vorgesehen hätte, dass ich mit Rolf Fieguth nach Moskau fahre, um alte Freunde zu besuchen, Erinnerungen aufzufrischen und auf den alten Pfaden des Jahres 1976 zu wandeln. Der Hauptgrund war, wenigstens vordergründig, dass ich mich nicht mehr sicher auf meinen Beinen fühlte – nach einem eigenartigen Schlaganfall im Dezember 2017, dessen Folgen für mich das ganze Jahr 2018 hindurch, mit abnehmender Penetranz, zu spüren waren. Wahrscheinlich leistete aber auch noch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem seit damals stark veränderten Moskau und gegenüber der Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs des Versuchs einer Wiederholung einen Beitrag dazu, dass der Plan auf Eis gelegt wurde.
Bereits Mitte Juli 2018 hatte ich von Sabine Hänsgen eine kurze Information erhalten, dass geplant ist, dass Andrei Monastyrski, Elena Elagina und Sergei Romashko als Mitglieder der Gruppe „Kollektive Aktionen“ (KD) zu einer Ausstellung im Wald bei Nikolskoe, die den Titel „Through a Forest Wilderness“ tragen würde, Anfang Oktober nach Berlin kommen. Quasi als Ersatz für die Moskaureise begann ich, eine Reise zum Ausstellungsort in Erwägung zu ziehen, und die Erwägungen dauerten lange genug, dass ich eine solche Reise schließlich – aus Selbstachtung – auch durchführen musste. Nach Abklärung der „Wann? Wo genau? Was wird los sein?“ – Fragen suchte ich mir für zwei Nächte vom 5. – 7.10. ein Hotel, das mir in der Nähe des Geschehens zu liegen schien, das Hotel AMBASSADOR Potsdam in der Babelsberger Lessingstraße.
Nach meiner Ankunft am Nachmittag des Freitags im Hotel, das, wie sich herausstellte, von russischen Schwestern geführt wurde, machte ich mich mit einem Taxi zu dem mir genannten Orientierungsort für das Geschehen auf – der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe. Der Taxifahrer, ein ortsfremder Potsdamer orientalischer Herkunft, fand schließlich nur mit meiner ideellen Hilfe und Navi tatsächlich im Wald die besagte Kirche, und ich stieg aus. Am Zielort war es wunderbar friedlich, besonders auf der menschenleeren Terrasse vor dem Eingang in die Kirche, mit einem abendlichen Blick hinab auf die spätsommerliche Havel und die gegenüber liegende Pfaueninsel, mit periodischem Glockenschlag, aber von einer Ausstellung und ihren Besuchern merkte ich erst einmal nichts. Ich wartete geduldig auf das, was dann am Ort meines Wartens nie geschah.
Als schließlich ein Handy-Kontakt zu Sabine hergestellt werden konnte, erfuhr ich, dass sich die Moskauer Mannschaft verspätet hatte, dass die Ausstellung doch irgendwo in meiner Nähe im Wald versteckt sein musste, und dass wir uns am Abend im AVENDI-Hotel beim Bahnhof Griebnitzsee treffen könnten. Ab diesem Moment kam die ganze Sache ins Lot: Ich fand, beim Weg zurück, den Eintritt in die Ausstellung, stolperte bei einsetzender Dämmerung durch ein Stück Wald mit den dem Eingang am nächsten liegenden Teilen der Ausstellung, und – das Beste – erfuhr, dass ich mit einem Shuttle-Bus mit zum Hotel zurück fahren konnte. Am Abend mischte ich mich unter die offiziellen Pizzeriagäste, d.h. die Ausstellungsteilnehmer, und kam dann nächtens auch wieder wohlbehalten in meinem Hotel an.
Am sonnigen Sonnabend (so weit von Süddeutschland entfernt will ich nicht von Samstag sprechen) fand ich mich am Vormittag am AVENDI-Hotel ein, wo sich langsam auch die Ausstellungsteilnehmer zeigten und von wo aus der Shuttle-Bus wieder in den Wald abfuhr. Ein Schwede, Bengt af Klintberg, outete sich im Gespräch als ehemaliger Fluxus-Künstler und Popularisierer des Begriffs „Urban Legends“. Andrei, der am Abend vorher, eventuell noch von der Anreise desorientiert, den morgendlichen Teil der Inaugenscheinnahme der Ausstellung im Wald nicht hatte mitmachen wollen, hatte sich inzwischen umstimmen lassen und kam – ausgeschlafen – mit Sabine, Dasha Novgorodova, Sergej und Elena im Bus mit. Er schien dann durchaus Spaß an der Ausstellung im sonnigen, staubtrockenen Spätsommer-Mischwald zu haben.
Für das Abgehen aller Ausstellungsstationen war eine Waldwanderung erforderlich. Sabine trug die ganze Zeit die KD-Losungen in ihrer FREITAG Bag, und das KD-Grüppchen, mit mir als Mitläufer, schlenderte plaudernd über Unebenheiten des Waldbodens und dürre Äste. Andrei fand unter den vielen potentiell interessanten Waldartefakten ein glatt abgesägtes Stück Baumstamm in Form zweier am Rand miteinander verschmolzener konvexer Ast-Rundungen mit erotischem Flair, das er für den Fall der Fälle mitnahm – und das später zum Anlass wurde, der Aktion „Drei Losungen“ ihren Untertitel „Für V. Zakharov und Yu. Leiderman“ anzuhängen. Gleichzeitig suchte er für das, was kommen sollte, im für die KD-Aktion vorgesehenen Waldstück geeignete Orte und Baumstämme, und traf – offensichtlich rein intuitiv – seine Entscheidungen.
Als am Nachmittag der für die KD-Aktion angekündigte Zeitpunkt gekommen war, kamen allmählich grüppchenweise die verschiedenen Besuchergruppen aus dem Wald, darunter offensichtlich viele Berliner Russen, z.B. auch Vladimir Sorokin mit Familie, die eine echt wirkende Moskau-Atmosphäre verbreiteten. Sabine holte die Stoffbahnen mit den für das Aufhängen bestimmten drei Losungen aus ihrer Tasche, und die Befestigung der drei Losungen an den ausgewählten Baumstämmen geschah beeindruckend effektiv und zügig. Anschließend wurde Vadim Zakharov von Andrei der aufgesammelte Baumabschnitt als Preis überreicht, mit einer Anweisung, wie er zur Geltung zu bringen ist, damit sich seine Walderotik voll entfalten kann.
Unter den Zuschauern der KD-Aktion, die in der Mehrzahl noch nichts von den „Kollektiven Aktionen“ gehört oder gesehen haben dürften, war bei allem Wohlwollen eine gewisse Ratlosigkeit erkennbar. Eine Besucherin fragte mich, ob ich ihr erklären könnte, wie das alles – eine im Wald aufgehängte rote Losung mit einem historischen heimatkundlichen Zitat aus Kriegszeiten, zwei weiße Losungen mit einer Diskussion zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation Moskauer Künstler - zu verstehen war. Ich drückte mich um einen Versuch, das Geschehen erschöpfend zu deuten – die zahlreichen selbstreferentiellen Bezüge widersetzten sich einer einfachen Erklärung. Vermutlich stellten sich die meisten unvorbereiteten Zuschauer im Hinblick auf eine Interpretation des Gesehenen Fragen, die nicht die richtigen waren. Ich grübelte selbst einige Zeit, welche Fragen denn die richtigen wären, damit eine befriedigende Antworte erhalten und verstanden werden konnte, warum die Gruppe, der im Laufe ihrer Existenz die Bezeichnung „Kollektive Aktionen“ zugewachsen war, schon so lange ihre diversen Aktionen durchführte und wenigstens in Moskau so bekannt geworden ist, dass sie zu den unbestrittenen Klassikern der russischen Konzeptkunst gehört.
Da sich die KD-Aktion zwar im Walde abspielte, aber den Wald nicht zum Gegenstand hatte, fiel sie aus dem Rahmen der Aktivitäten der anderen Künstler heraus, die in den meisten Fällen um ein romantisches, empathisches oder existentielles Verhältnis zu Wald, Bäumen und Natur kreisten. Der russische Wald, der, vor allem in den früheren Jahren der Aktivitäten der Gruppe, auch ein Fluchtraum außerhalb der Machtmetropole Moskau war, wo sich Dinge abspielen konnten und wo Konzepte erprobt werden konnten, die in Moskau fehl am Platze gewesen wären und lästiges Misstrauen hätten erregen können, und wo das Verstecken von Sachen geübt werden konnte, war ein anderer Wald als der sonnige helle Mischwald im Berliner Forst Düppel. Die Nähe von Blockhaus, Friedhof und Kirche von Nikolskoe, die an die verwandtschaftlichen Beziehungen der Herrscherfamilien von Preußen und Russen vor 200 Jahren erinnern, erzeugte, wie ich mir einbildete, auch heute noch eine Aura einer abgehobenen, kultivierten russischen Lebensart fern Moskauer Macht.
Mein Verständnis der jahrzehntelangen KD Aktionen war u.a. das der Arbeit an einer Parallelgeschichte, die sich entschieden von der offiziellen sowjetischen und dann national-russischen Geschichtsschreibung abgewandt hatte und die sich ihre eigenen Schlüsselereignisse, Geschichtskarten und archäologischen Ausgrabungen geschaffen hatte. Es schien mir daher, dass auch die Aktion im Berliner Forst, die durchaus nicht deplatziert wirkte, weniger mit Wald und Bäumen korrespondierte als mit dem abgeschlossenen Geschichtskapitel, in dem die Rote Armee, an der äußersten Peripherie des sowjetischen Einflussbereichs, in der benachbarten Garnisonsstadt Potsdam die bestimmende Macht gewesen war.
Am Abend, nach der Rückkehr ins Hotel mit organisatorischen Hindernissen, konnten wir beim Essen die Aktualität alter Freundschaftsbande testen, den Grad des zwischenzeitlichen Älterwerdens feststellen und über alles Mögliche reden und klatschen, was sich in den letzten Jahren ereignet und uns möglicherweise verändert hatte.
Am Sonntag fuhr ich zufrieden, mit einem Ausstellungskatalog und viel Stoff zum Nachdenken, mit der Bahn nach München zurück.